Chinesische Studenten bei Abschlusszeremonie
Studie
17 Minuten Lesedauer

Arbeitnehmer streben zurück ins staatliche System + Artikel deutet neue Abschottung Chinas an + Die Zukunft von Chinas Chip-Industrie


China SpektrumDiese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Mehr erfahren Sie hier.


Auf einen Blick

Auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) im Oktober 2022 wurde Xi Jinping für eine dritte Amtszeit als Generalsekretär bestätigt. In seinem Bericht an die Delegierten erklärte er die „sozialistische Modernisierung“ des Landes zum Ziel, der „bescheidene Wohlstand“ für die Bevölkerung gilt als erreicht. Ein großer Fokus lag auf der angestrebten Technologieführerschaft Chinas, das angesichts von Problemen im internationalen Umfeld unabhängiger werden soll.

Zugleich rief Xi die Bevölkerung auf, sich auf härtere Zeiten einzustellen. Nach einem Jahr mit wiederholten Covid-Ausbrüchen und zahlreichen Lockdowns hat auch China mit wirtschaftlichen Einbußen, unterbrochenen Lieferketten und Einkommensverlusten in der Bevölkerung zu kämpfen. Vereinzelte Proteste zeigen, dass die Partei keinen uneingeschränkten Zuspruch genießt und die neue Führung vor allem in der Wirtschaftspolitik und bei der Existenzsicherung der Bürger:innen Erfolge vorweisen muss.

CHINAS ZUKUNFTSVORSTELLUNGEN

Zurück "ins System": Chinas Talente suchen Jobs im öffentlichen Dienst

Die Nachricht, dass der Sänger einer erfolgreichen Boyband Schauspieler am Nationaltheater werden soll, schlug unerwartet hohe Wellen in Chinas sozialen Medien. Denn damit sicherte sich das Idol eine begehrte Stelle „innerhalb des staatlichen Systems“. Ein Blick auf die Frage- und Antwort-Plattform Zhihu zeigt, dass mehr als die Hälfte der Netizens die Arbeit im Staatsdienst gegenüber der Privatwirtschaft bevorzugt, trotz geringerer Löhne. Das zeigt die wachsende Verunsicherung jüngerer Generationen – und ihre Suche nach Sicherheit.

CHINAS DIGITALE TRANSFORMATION

"Was ist los mit Chinas Chipindustrie?" - Komentator:innen machen vielfältige Gründe für Rückstand aus

Anfang Oktober schränkte das US-Handelsministerium Chinas Zugang zu Halbleitern ein. Die chinesische Regierung reagierte verhalten, aber strebt langfristig eine größere Unabhängigkeit bei der Entwicklung und Produktion von Chips an – mit mäßigem Erfolg. Auf der Plattform Zhihu teilten Netizens ihre Einschätzungen über die Gründe für Chinas Rückstand, von mangelnden Talenten und fehlende Investitionen in die Grundlagenforschung, bis zum regulativen Umfeld und geopolitischen Spannungen.

CHINAS ROLLE IN DER WELT

„Autonome Beschränkung“: Netizens diskutieren lobenden Artikel über historische Abschottungspolitik

Die Chinesische Akademie für Geschichte veröffentlichte im August einen Artikel, der dafür plädierte, die „Abschottungspolitik“ der Ming- und Qing-Dynastien im positiven Sinne als „autonome Beschränkung“ zu betrachten. Kommentator:innen sahen darin einen Bezug zu aktuellen außenpolitischen Spannungen und dem Streben der Führung nach Autonomie. Nutzer:innen auf dem Kurznachrichtendienst Weibo lehnten die Darstellung des Artikels überwiegend ab und sehen wirtschaftliche und gesellschaftliche Nachteile in einer neuen Abschottung des Landes.

CHINAS ZUKUNFTSVORSTELLUNGEN

Zurück „ins System": Chinas Talente suchen Jobs im öffentlichen Dienst

Was ist passiert?

Anfang Juli 2022 wurde bekannt, dass das chinesische Nationaltheater Yi Yangqianxi (易烊千玺), Mitglied der in China äußerst populären Boyband Tfboys, als Schauspieler verpflichtet hat. Die Besetzung löste eine mediale Kontroverse aus, an deren Ende Yi das Engagement ablehnte. Die Ereignisse im Überblick:

  • Yis Fans feierten das Engagement mit dem Hashtag #MeinKaderfreund (我的体制内男友, wörtlich übersetzt: mein Freund im System) und brachten ihren Stolz zum Ausdruck, dass das Talent ihres Idols von einer staatlichen Institution gewürdigt wird.
  • Viele junge Arbeitssuchende fanden es hingegen unfair, dass eine erfolgreiche Persönlichkeit wie Yi eine der begehrten und seltenen Stellen im Staatsdienst annimmt, „innerhalb des Systems“ (体制内). Sie forderten Aufklärung über das Aufnahmeverfahren.
  • Chinas parteistaatliche Medien verteidigten Yi und bezeichneten die Kritiker:innen als Kleinstadt-Streber (小镇做题家), die trotz fleißigen Lernens keine Arbeit fänden, was deren Wut weiter anfachte.
  • Wegen der heftigen Empörung in den sozialen Medien entschied sich Yi Mitte Juli gegen das Engagement.

Die eskalierende Aufregung über die Promi-Personalie hat einen tieferen Grund: Im Juni 2022 erreichte die Jugendarbeitslosigkeit in China ein Allzeithoch von 19,9 Prozent. Für die Technologie-Branche, den Immobiliensektor und die Finanzbranche ist es ein schwieriges Jahr. In Zeiten der wirtschaftlichen Unsicherheit, in der private Unternehmen mit Covid-Einschränkungen und einer Welle von staatlichen Regulierungen zu kämpfen haben, wird der öffentliche Dienst attraktiver:

  • Wachsendes Interesse: 2022 traten erstmals mehr als zwei Millionen Kandidat:innen bei den Aufnahmeprüfungen für den öffentlichen Dienst an.
  • Mehr Konkurrenz: Bei gerade einmal 31.200 offenen Stellen kamen auf eine Stelle in diesem Jahr im Durchschnitt 68 Bewerber:innen. Im Vorjahr waren es 54 gewesen.
  • Ungleiche Chancen: 70 Prozent der Absolvent:innen der renommierten Tsinghua-Universität sind 2021 in den öffentlichen Dienst eingetreten. Damit
  • setzte sich der bereits in den Vorjahren einsetzende Anstieg fort (2019: 63%, 2020: 65%).

Das große Interesse an Stellen im Staatsdienst sagt viel über die Zukunftssorgen junger Menschen in China aus. Durch die Reform- und Öffnungspolitik und den resultierenden Aufschwung der Privatwirtschaft waren Jobs dort lange Zeit begehrt. In den 1990er Jahren wollten viele junge, motivierte Menschen nicht in dem als einschränkend und ineffizient wahrgenommenen staatlichen System, sondern in der Privatwirtschaft Karriere machen. Sinnbildlich dafür wurde seinerzeit der Begriff xia hai (下海) geprägt: in See stechen. Im Kontrast dazu steht das derzeit häufig verwendete Schlagwort shang an (上岸): an Land gehen. Viele Berufseinsteiger:innen suchen also heute das „sichere Ufer“ des öffentlichen Dienstes und ziehen eine berufliche Laufbahn „im System“ vor.

Abbildung 1

Was sagen chinesische Netzbürger:innen dazu?

Auf der populärsten chinesischen Frage-Antwort-Plattform Zhihu (知乎) diskutieren Nutzer:innen, welcher Karriereweg die besten Zukunftsaussichten verspricht. Wir haben uns die Antworten auf die meistkommentierte Frage zum Stichwort „innerhalb des Systems“ (体制内)1 angesehen. Die Frage lautete: „Was ist besser? Ein Monatsgehalt von 3.000 CNY (ca. 400 EUR) innerhalb des Systems oder 15.000 CNY (ca. 2.000 EUR) bei einem Technologieunternehmen?“ Die Analyse der 1.286 Antworten, die im Zeitraum vom 29. März 2015 bis zum 16. April 2022 gepostet wurden, ergab ein überraschendes Resultat: Eine Mehrheit von 58 Prozent würde sich mit den 3.000 CNY im öffentlichen System zufriedengeben.

Vielfältige Motive für die Wahl innerhalb oder außerhalb des Systems

Die Kommentare spiegeln vielfältige Motive wider, wobei sich einige wiederkehrende Argumente ausmachen lassen. Unter den Top-Posts sind auch ältere Antworten, zum Teil bereits von 2018, die aktuell neue positive Bewertungen erhalten.

Privilegien: Einige Nutzer:innen deuten auf das Machtmonopol der staatlichen Einrichtungen.

"Als ich ein Kind war, hörte ich von älteren Familienangehörigen, dass Angestellte in der Metzgerei eine 90-prozentige Erfolgsquote bei der Partnersuche hatten. Und warum? […] Früher waren die Vorräte knapp […]. Wie alle Einrichtungen waren auch die Metzgereien staatlich. Die Verkäufer:innen hatten zumindest etwas Macht. Sie wussten, welche Fleischstücke gut waren, und konnten natürlich entscheiden, wem sie fettes und wem sie mageres Fleisch geben."

小的时候,我听家里面的老人说,过去在肉铺子卖肉的人都很好找对象。有这种工作的人基本上是相亲成功率百分之九十。为什么呢? […] 过去物资短缺[…]。过去都是国营单位,肉铺子也不例外。在肉铺子卖肉的又有点小权利,他们知道哪块肉好,哪块不好,自然就能决定给谁肥,给谁瘦。

Time刚刚好, 05.07.2018. 2.201 Likes

Stabilität und Arbeitsplatzsicherheit: Einige Nutzer:innen waren von den Folgen neuer Regulierungen in Chinas Technologie-, Bildungs- und Immobiliensektor persönlich betroffen und sind verunsichert.

"Ich war sieben oder acht Jahre in der privaten Nachhilfe tätig. Anfangs, als ich relativ gut verdiente, war es mir eigentlich nicht wichtig, einen Arbeitsplatz im System zu haben. Die neue staatliche Regulierung der Branche im Laufe der letzten Jahre hat mich jedoch stark getroffen. Auch in der IT-Branche […] ist der Wohlstand zu einem großen Teil auf die politische und finanzielle Unterstützung durch den Staat angewiesen. Wenn der Staat seine Unterstützung zurückzieht, wie viele Menschen werden dann ihren Arbeitsplatz verlieren?"

我做培训这行也有七八年了,最开始拿着比较高的收入,其实是不屑与体制内的。但是,这些年国家对于教育培训的控管,让我百感滋味在心头。在比如,多少人引以为豪的IT行业,这里面的繁荣有多少是国家背后政策和资金的支持。如果 […]国家撤出支持,又有多少人会失业。

无聊大师, 21.07.2022, 3.181 Likes

Persönliche Entwicklung: Trotz der Unsicherheit über die wirtschaftliche Entwicklung Chinas sehen manche ihre Zukunft in der Privatwirtschaft.

"Als ich jung war, sagte mein Lehrer etwas zu mir, das ich nie vergessen habe. Wenn sich die besten Leute eines Landes um den Einstieg ins Geschäftsleben
bemühen, dann muss es um die Wirtschaft gut bestellt sein. Wenn sie sich darum reißen, in das Staatssystem aufgenommen zu werden, dann muss es um die Wirtschaft nicht gut bestellt sein. Ich habe mich für die 15.000 außerhalb des Systems entschieden. Ich möchte, dass sich das Land und diese Region entwickeln […]."

年少时,我的老师对我说过一段话,至今未忘记: 当一个国家或地区,最优秀的那批人争着抢着到商业环境里,那么这个国家和地区的经济一定非常好,发展也一定非常快;当一个国家或地区,最优秀的那批人争着抢着到体制内,那么这个国家和地区的经济一定不怎么样,发展也一定会相对滞后。我选择体制外的15000。 我希望这个国家和地区能够有所发展[…]。

羊迪, 02.10.2018 1.492 Likes

Berufliche Entwicklung: Die hierarchische Arbeitskultur im öffentlichen Dienst behindert die freie berufliche Entwicklung.

"[…] Innerhalb des Systems wird der Wert eines Mitarbeiters durch seine Vorgesetzten bestimmt; wann er befördert wird, liegt nicht in seiner Hand. Außerhalb des Systems (in der Privatwirtschaft) bestimmt der Markt deinen Wert, der aktuelle Wert wird durch den aktuellen Markt bestimmt, der zukünftige Wert hängt von der beruflichen Entwicklung und dem zukünftigen Markt ab. […] Ich habe für ein Jahr im System gearbeitet. Da ich nicht trinkfest und anbiedernd bin, war die Antwort ganz klar: das System zu verlassen."

体制内你的价值是由你的领导决定的,啥时候升啥时候涨薪完全不是自己控制;体制外你的价值是由市场决定的,现在的价值就是现在市场决定的,未来的价值交给自己的提升和未来的市场. […] 此外体制内实习了一年不会喝酒不会拍马不会维持跟处长科长关系等等;所以选择很明显。

Anonym 21.8.2019, 240 Likes

Abbildung 2

Was bedeutet das?

Die andauernden Bemühungen der Regierung, die Privatwirtschaft strenger zu regulieren und die staatliche Kontrolle zu stärken, haben enorme wirtschaftliche Auswirkungen. Zehntausende wurden im Laufe des vergangenen Jahres in der Tech-Branche entlassen.

Auch die wiederkehrenden Covid-Lockdowns verunsichern nicht nur Unternehmen, sondern Arbeitnehmer:innen im ganzen Land und beeinflussen die Entscheidungen von Berufseinsteiger:innen zugunsten des öffentlichen Dienstes. Einerseits ist es positiv, dass junge und gut ausgebildete Talente eine Karriere im öffentlichen Dienst anstreben. Andererseits ist es in einem stark ideologisch geprägten und zentral gesteuerten Arbeitsumfeld schwierig, neue Ideen einzubringen, auszuprobieren und umzusetzen.

Doch schon jetzt zeigt sich, wie begrenzt die Aufnahmefähigkeit des öffentlichen Systems ist. Mit etwas mehr als zehn Millionen überstieg die Zahl der Hochschulabsolvent:innen 2022 zum ersten Mail seit langem die Summe der neu geschaffenen Jobs im städtischen Raum. Stellen im öffentlichen Dienst machen davon nur einen Bruchteil aus.

Zudem ist fraglich, ob der Staatsdienst tatsächlich die erhoffte Sicherheit bietet. Städte wie Shenzhen und Shanghai sowie Küstenprovinzen wie Jiangsu, Zhejiang, Guangdong und Fujian haben angesichts der schrumpfenden Einnahmen bereits begonnen, Gehälter zu kürzen oder Stellen zu streichen.

Auch 2023 dürften China weitere pandemiebeschränkte Einschränkungen bevorstehen, eine Herausforderung für fast alle Unternehmen, aber auch die öffentlichen Haushalte. Für die auf dem 20. Parteitag bestätigte neue Führung um Staats- und Parteichef Xi Jinping werden die Themen Arbeitsmarkt und Einkommen im Kontext seines ideologisch aufgeladenen Konzepts des “gemeinsamen Wohlstands“ eine große Dringlichkeit behalten.

Chinas digitale Transformation

„Was ist los mit Chinas Chipindustrie?“ – Kommentator:innen machen vielfältige Gründe für Rückstand aus

Was ist passiert?

Am 7. Oktober schränkte das Büro für Industrie und Sicherheit des US-Handelsministeriums Chinas Zugang zu hochspezialisierten Halbleitern weiter ein. Die betroffenen Firmen müssen nun – ähnlich wie in anderen Technologiebereichen – spezielle Lizenzen für die Zulieferung und den Export relevanter Produkte in die Volksrepublik beantragen.

China braucht Halbleiterprodukte, um seine ehrgeizigen Innovationsziele zu erreichen und ist bei weiter entwickelten Produkten abhängig von Importen.
Chinas Reaktionen waren zunächst zurückhaltend – wohl auch aufgrund des zeitgleich in Beijing stattfindenden KPC-Parteitags: Die Maßnahmen dienten dem „Schutz der Technologie-Vorherrschaft der USA“ und stellten das das “Prinzip des fairen Wettbewerbs und internationale Handelsregeln“ in Frage, erklärte Außenministeriumssprecherin Mao Ning. Sie verstießen gegen die “Interessen chinesischer und auch von US-Unternehmen”.

Als Teil des industriepolitischen Plans “Made in China 2025” wollte Beijing bis 2025 bei gewöhnlichen Chips eine Selbstversorgungsrate von 70 Prozent erreichen. Aktuell liegt diese Quote laut Experten erst bei 16 Prozent. Als einen Hauptgrund für Chinas schlechte Chip-Bilanz nennen chinesische Medien ineffiziente staatliche Investitionen in strategische Teile der Chipherstellung. Die im August eingeleitete Untersuchung gegen Ding Wenwu, Chef des großen staatlichen Chip-Fonds China Integrated Circuit Industry Investment Fund, deutet auf Missstände hin.

Die Zukunft der chinesischen Chipindustrie beschäftigt auch Chinas Internetnutzer:innen. Insbesondere auf der Plattform Zhihu mit rund 220 Millionen registrierten Nutzer:innen finden sich viele Themen und Debatten rund um digitale Technologien. Studien zufolge3 sind auf Zhihu überdurchschnittlich viele Angestellte aus der IT-Industrie und Studierende der Informatik aktiv.

Was sagen chinesische Netzbürger:innen?

Um besser zu verstehen, wie chinesische Netizens Chinas Position in der Halbleiterindustrie einschätzen, haben wir die Plattform nach Beiträgen zu “Chinas Chipindustrie“ (中国芯片产业) durchsucht und die Frage mit den meisten Antworten ausgewertet:

“Warum hat China kein Intel oder AMD, was ist los mit Chinas Chipindustrie?“

(为什么中国没有 Intel、高通,中国的芯片行业怎么了?

Die 717 Antworten zum Zeitpunkt der Untersuchung wurden manuell kodiert und verschiedenen Themen zugeordnet. Manche Autor:innen führen mehrere Argumente an.4 Um das Meinungsspektrum realistisch abzubilden, haben wir nicht nur die Häufigkeit der Nennung jeder Kategorie, sondern auch die Anzahl der Likes gewichtet, die ein Beitrag auf Zhihu erhalten hat.5 Zum Beispiel werden häufig unspezifische historische Gründe genannt, solche Aussagen bekommen aber nur wenige Likes, sie werden also nicht als relevante Debattenbeiträge wahrgenommen.

Abbildung 3

Insgesamt ergibt sich ein gemischtes Bild, bei dem vielfältige Faktoren als Ursache ausgemacht wird, wie die Auswertung und Zusammenfassung zentraler Argumente zeigt.

Fehlende Talente (36%): Viele Kommentator:innen begründen das Fehlen von Fachkräften mit der schlechten Bezahlung und schlechten Bedingungen in einer Branche, in der Arbeitszeiten bis zu zwölf Stunden am Tag und Wochenendarbeit teils explizit erwartet werden.

Internationales Umfeld (18%): Oft wird auf das Bestreben der USA verwiesen, ihren technologischen Vorsprung durch Sanktionen und andere Einschränkungen zu halten, sowie auf bestehende „technologische Monopole“, die China in seiner Chip-Entwicklung eindämmen.

Staatliche Rahmenbedingungen (14%): Trotz signifikanter staatlicher Förderung sind Kommentator:innen der Ansicht, dass zu wenig in den Chip-Sektor investiert wird und es gleichzeitig eine Überkonzentration auf einzelne Akteure gibt. Hier gebe es Zielkonflikte zwischen schnellem Gewinnstreben auch seitens der Unternehmen und dem langwierigen und zunächst unprofitablen Unterfangen, innovative Fortschritte zu erzielen.

Forschung und Entwicklung (14%): Auch in der Forschung und Entwicklung werden mangelnde Kontinuität, fehlende Mittel und teils Korruption als Probleme identifiziert. Die Idee von Wissenschaft als zentraler Treiberin von Innovation und Produktivität bleibe eine Floskel. Kritisch beleuchtet wird auch das chinesische Bildungssystem, das Kreativität nicht ausreichend fördere.

Struktur des Sektors (9%): Die Chip-Industrie ist eine vernetzte Branche, die Produktion von Chips erfordert in den Vorstufen die Zusammenarbeit mit Roh- und Werkstoff- Gewinnung, Chemie, technischem Design und anderen Bereichen. Auch globale Kooperation ist unabdingbar, da China selbst nicht über vollständige industrielle Wertschöpfungsketten und Kapazitäten für die industrielle Produktion verfügt.

Historische Gründe (6%): Manche Autor:innen führen die langsame Entwicklung der Chipindustrie in China auf historische Gründe zurück. Demnach verhinderten die politischen Verwerfungen im 20. Jahrhundert eine frühe technologische Entwicklung. Einige äußern sich optimistisch, dass China den Rückstand aufholen kann.

Unternehmensmanagement (3%): Kurzfristige Planung verhindert längerfristige Investitionen und Innovation.

Was bedeutet das?

International ist der Wettbewerb in Chip- und insbesondere Mikrochiptechnologien ein hochaktuelles und auch geopolitisch aufgeladenes Thema. Erst kürzlich hat die deutsche Bundesregierung in zwei Fällen chinesische Investitionen in deutsche Unternehmen untersagt, die in der Halbleiter- und Chipfertigung tätig sind.

Angesichts der politischen Bedenken ist es aufschlussreich zu schauen, wie chinesische Beobachter die Stärken und Schwächen der einheimischen Chip-Industrie einschätzen. Deren gerne postulierte Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit sehen chinesische IT-affine Netzbürger:innen durchaus kritisch. Sie benennen auch Probleme, von denen das zunehmend restriktive internationale Umfeld nur ein Aspekt ist. Das Fehlen von Fachkräften wird als größtes Hindernis bei der Entwicklung einer hochwertigen Chipindustrie in China gesehen – und auch allgemein als eine große Schwachstelle der chinesischen Industriepolitik. Trotz zahlreicher Initiativen zur Anwerbung von Fachkräften äußern die Kommentator:innen Zweifel, dass Chinas Regierung dieses Problem in absehbarer Zeit lösen wird.

Chinas Industrie- und Innovationspolitik braucht mehr Anreize für Grundlagenforschung und nicht nur für eine kurzfristig lukrativere anwendungsorientierte Forschung. Dies dürfte in Anbetracht der angespannten Wirtschaftslage nur schwer zu realisieren sein, doch sollten Akteure in Deutschland und Europa wachsam bleiben: China wird angesichts jüngster Einschränkungen westlicher Staaten seine Anstrengungen mit Blick auf die Entwicklung seiner Chipindustrie deutlich verstärken. Das Bestreben Beijings, Taiwan als Top-Chiphersteller mittelfristig einzugliedern – notfalls mit Gewalt –, gewinnt in diesem Kontext ebenfalls an Brisanz.

CHINAS ROLLE IN DER WELT

„Autonome Beschränkung“: Netizens diskutieren lobenden Artikel über historische Abschottungspolitik

Was ist passiert?

Die Chinesische Akademie für Geschichte (中国历史研究院), ein dem Staatsrat unterstelltes Forschungsinstitut, veröffentlichte am 24. August einen Artikel mit dem Titel „Eine Neubewertung der Abschottungspolitik in den Ming- und Qing-Dynastien“. Der Begriff „Abschottungspolitik“ (闭关锁国), oder wörtlich übersetzt die „Beschränkung des Zollraums und Abriegelung des Landes“, beschreibt in der chinesischen Geschichtswissenschaft eine Reihe zusammenhängender Maßnahmen vom 15. bis ins 17. Jahrhundert. Dazu zählten unter anderem die Einschränkung des nicht-staatlichen Seehandels und der Besiedlung der Küstengebiete. Diese Politik der Abschottung nach außen wurde in der chinesischen Geschichtsschreibung lange als ein Hauptgrund für Chinas „Jahrhundert der Demütigung“, also die wirtschaftliche Rückständigkeit und Fremdbestimmung durch koloniale Mächte seit der späten Qing Dynastie, ausgemacht.

Der Artikel plädierte dagegen für eine Neubewertung:

  • Der Begriff „Abschottungspolitik“ sei von einer westlichen Perspektive geprägt und eine eurozentrische Beschreibung der Außenpolitik der Ming- und Qing-Dynastien.
  • Der Begriff „autonome Beschränkung des Zollraums“ (自主限关) sei passender. Er erkenne die Bemühungen der chinesischen Herrscher zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und zum Schutz vor der Aggression westlicher Kolonialmächte an.

Verfasst hat den Artikel eine Forschungsgruppe der 2019 gegründeten Akademie. Deren Leiter Gao Xiang (高翔) ist nicht nur studierter Historiker, er hat auch in der Kommunistischen Partei Karriere gemacht und war Vize-Direktor der chinesischen Cyber-Verwaltung (Cyberspace Administration of China, kurz CAC). Dieser obersten Aufsichtsbehörde zur Regulierung des chinesischen Internets kommt eine wichtige Rolle bei Zensur und Propaganda zu.

Weil Gao Xiang ein ranghoher Parteifunktionär und die Akademie eng mit parteistaatlichen Institutionen verflochten ist, wirft der Artikel die Frage auf, ob China sich weiter von der Reform- und Öffnungspolitik der vergangenen Jahrzehnte abwenden wird.

Die chinesische Führung hat dazu unterschiedliche Signale gesendet. So sagte der scheidende Premierminister Li Keqiang bei einem Besuch in der Metropole Shenzhen – eines der bedeutendsten Wirtschaftszentren Chinas und oft Vorreiter bei wirtschaftlichen Reformen – die Öffnung Chinas gegenüber dem Ausland sei „eine Tür der Möglichkeiten, die wir niemals schließen dürfen“. Die Rede war jedoch in China nicht zugänglich. Staats- und Parteichef Xi betonte dagegen im August bei einem Besuch der nordostchinesischen Provinz Liaoning, in der vorwiegend Staatsunternehmen angesiedelt sind, China müsse „auf sich selbst vertrauen“ und sich aus „eigener Kraft entwickeln“. Eine Botschaft, die auch auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei im Oktober bekräftigt wurde.

Was sagen chinesische Netzbürger:innen?

Für einen geschichtswissenschaftlichen Artikel schlug der Beitrag hohe Wellen auf chinesischen Diskussionsplattformen. Er erhielt zeitweise mehr Aufmerksamkeit als beispielsweise die Nachricht vom Tod des ehemaligen sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow oder die jüngste Weltraummission des Landes. Die Kommentare zum Thema wurden teils stark zensiert, vermutlich auch deshalb, weil die es hier um die offizielle Geschichtsdeutung und indirekte Infragestellung aktueller Politik geht. Trotzdem sind auf Weibo unter dem Suchwort „autonome Beschränkung des Zollraums“ 126 Beiträge auffindbar, die vom 24. August bis 30. September veröffentlicht wurden und unterschiedliche Meinungen zum Thema widerspiegeln.

Nur etwa zehn Prozent der Beiträge sprechen sich für die Begriffsänderung aus. Sie führen unter anderem folgende Argumente an:

China solle die Diskursmacht über die eigene Geschichtsschreibung zurückerlangen.

„Ob ‚Abschottungspolitik‘ oder ‚autonome Zollbeschränkung‘ – im Kern geht es um einen Kampf über die Deutungshoheit. Es wird lange dauern, das westliche Diskurssystem zu dekonstruieren und etwas Neues aufzubauen.“

到底是“闭关锁国”还是“自主限关”的定义是一场争夺话语权的较量。夺回话语权,任重道远。要先解构西方话语体系,再重建,艰苦又漫长。

南宫九 (1.9.2022, Weibo)

Der Ansatz der „autonomen Beschränkung“ sei auch heute noch von Relevanz, sogar mit Blick auf die Aktivitäten chinesischer Unternehmen. Ein beispielhafter Nutzer führt den Fahrtdienstvermittler Didi als Beispiel an:

„[…] Wir müssen bei der Öffnung vorsichtig sein. Zum Beispiel können wir [den Markt] nicht offen halten für Unternehmen wie Didi, das ohne Rücksicht auf die nationale Sicherheit einen Börsengang in den USA angestrebt hat.“

对待开放我们必须慎之又慎,比如像滴滴这样不顾国家安全跑到美国上市的买办企业我们就不能开放。

每每心语 (9.9.2022, Weibo)

Eine große Mehrheit (90 Prozent) der untersuchten Beiträge lehnt die Grundaussage des Artikels ab. Sie argumentieren, die Isolation Chinas könne zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rückschritten führen. Ein Nutzer verweist auf Nordkorea:

"Ein sehr aktuelles Beispiel sind unsere Nachbarn unter Kim [in Nordkorea]: Wenn Sie glauben, dass es den Menschen dort gut geht, dann ist es gut, das Land abzuschotten. Wenn nicht, dann ist es wohl nicht gut."

最现实的例子是邻居老金家,如果你认为他家过得好,那就是闭关锁国好,否则闭关锁国就不好。

淡泊杨宁静1 (31.8.2022, Weibo)

Weitere Nutzer argumentieren, Isolation schütze die Interessen der Herrschenden, nicht die der Bevölkerung.

"Letztlich geht es um die Öffnung des Marktes und der Kapitalflüsse! (…) Und genau das haben die aufeinanderfolgenden Herrscher-Dynastien in unserer Geschichte nur widerwillig getan. Weil es um ihre grundlegenden Interessen ging!"

说到底就是开放市场,开放资本![…] 而这也恰恰是我国历史上历代朝廷不愿意的事情。因为这牵涉到他们的根本利益!

我就是喜欢看小说 (1.9.2022, Weibo)

Was bedeutet das?

Die Debatte im chinesischen Netz spiegelt die Besorgnis der Nutzer:innen wider, dass der Artikel ein richtungsweisendes Indiz für die Abkehr von der Öffnungspolitik der vergangenen Jahrzehnte ist. In den letzten Jahren hat die Partei- und Staatsführung unter Xi immer stärker die Notwendigkeit der Autonomie Chinas betont. An oberster Stelle steht dabei die Produktion von zentralen Technologien und die Absicherung von Lieferketten, oft mit Verweis auf die politischen Spannungen mit den USA. Die Binnenwirtschaft zu stärken und Chinas Beteiligung am internationalen Handel in diesem Sinne zu gestalten ist Teil der von Xi verkündeten Strategie der „Zwei Kreisläufe“ in der Wirtschaftspolitik.

Die Diskussion über die Abschottungspolitik der Ming- und Qing-Dynastien dreht sich letztlich um die Frage, wie sehr sich China international integrieren oder stärker „autonom beschränken“ soll. Die Umdeutung historischer Ereignisse im Sinne einer nationalistischen, auf Eigenständigkeit bedachten Auslegung soll eine Kontinuität des Handelns der Partei aufzeigen und dieses legitimieren. Der Artikel dieser parteistaatlichen Institution untermauert dabei den Anspruch der KPC auf die Deutungshoheit über die chinesische Geschichte – und darauf, den zukünftigen Kurs des Landes zu bestimmen.

Angesichts zunehmender Werte- und Interessenkonflikte mit westlichen Staaten erschwert Chinas ideologische Abschottung durch Zensur und Internetsperren, aber auch die Bemühungen einer wirtschaftlichen Entflechtung den politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Austausch. Gleichzeitig wird chinesischen Akteuren im Ausland mit mehr Skepsis begegnet. Auch „autonome Beschränkung“ hat unerwünschte Folgen.

 

Endnoten

1 | Laut ifeng.com haben ca. 78% der Zhihu-Nutzer:innen einen Hochschulabschluss und 54,57% der Nutzer:innen sind unter 30 Jahre alt. Die Nutzergruppe von Zhihu bildet ein repräsentatives Sample für die Fragestellung: Wie beurteilen jungen Hochschulabsolvent:innen tizhinei-Stellen. Das Sampling erfolgt auf Basis einer Suche auf Zhihu mit dem Stichwort 体制内. Die Frage mit den meisten Antworten wird als Sample heruntergeladen. Das Erhebungsdatum ist der 21.9.2022.

2 | Die Kategorien 3.000 CNY, tendiert zu 3.000 CNY, tendiert zu 15.000 CYN, 15.000 CYN und unentschieden/ unklar haben jeweils 466, 63, 80, 300 und 377 Antworten. Die Kategorien werden nach ihren gesamten Likes (13.537 für 3.000 CNY, 4.101 für tendiert zu 3.000 CNY, 465 für tendiert zu 15.000, 5.448 für 15.000, 4.032 für unentschieden/unklar gewichtet, um das gesamte Stimmungsbild besser wiederzugeben.

3 | Zu den genannten Studien zählen z.B. Jianshu (2019). “千万知乎用户数据分析报告 (Datenanalysebericht von 10 Millionen Zhihu-Nutzern)”.9. Juli. https://www.jianshu.com/p/b37d671f97e5. Zugriff am 10.11.2022 und Xueshen Keji (2020). “知乎人均985?用Python爬虫告诉你答案 (Ein Python-Crawler wird ihnen die Antwort auf die Frage nach 985 pro Kopf verraten)”. 9. Januar 2022. https://www.bilibili.com/read/cv4317550/. Zugriff am 10.11.2022.

4 | In den insgesamt 717 Beiträgen sind folgende Gründe für Chinas Misserfolg in Chipindustrie genannt (mehrfache Nennung möglich): historische Gründe (170), staatliche Rahmenbedingungen (145), Struktur des Sektors (122), fehlende Talente (119), Forschung und Entwicklung (110), Unternehmensmanagement (106) und internationales Umfeld (87). Die historischen Gründe werden am meisten für Chinas rückständige Chipindustrie erklärt. Wirft man jedoch einen Blick auf die Likes der jeweiligen Beiträge, ergibt sich ein anders Bild: der Grund Talent nimmt mit 18.424 Likes den ersten Platz ein, gefolgt von internationalem Umfeld (12.638), Forschung und Entwicklung (7.913) und staatliche Rahmenbedingungen (5.675). Struktur des Sektors (4.386), historische Gründe (2129) und Unternehmensmanagement (1.403) erhielten die wenigsten Likes.

5 | Die Anzahl der Antworten aus den jeweiligen Kategorien wird mit den Likes multipliziert. Der entstehende Index der jeweiligen Kategorien wird prozentual aufgeteilt und in der Grafik dargestellt.

 

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