„Eine Bewegung wie die Tiananmen-Proteste kann es heute nicht mehr geben“
30 Jahre nach Tiananmen
Unterdrückung oder Verschleierung. Bis heute hat die Großmacht China keinen anderen Weg gefunden, mit dem Erbe der blutig niedergeschlagenen Proteste von 1989 umzugehen. Weltweit und auch in Hongkong werden Aktivisten am 30. Jahrestag der Protestbewegung gedenken – auf dem Festland ist das undenkbar.
Fragen an Frank N. Pieke, Direktor des Mercator Instituts für China Studien (MERICS).
Erinnern sich die Menschen in China überhaupt noch daran, was vor 30 Jahren geschehen ist? Und wenn ja, wie informieren sie sich?
Das ist schwer zu sagen. Ältere Menschen erinnern sich und werden die Ereignisse von damals auch nicht vergessen. Die Jüngeren erfahren in der Regel von ihren Eltern, dass vor 30 Jahren etwas vorgefallen ist, haben aber meist kein klares Bild vom Geschehen. Es gibt nur wenige offizielle Bücher über den 4. Juni. Andere Quellen, insbesondere ausländische Berichte, werden streng zensiert. Chinesische Studierende im Ausland sind oft auffallend schlecht informiert und zeigen auch kein großes Interesse an der Protestbewegung von damals. Für sie sind das alte Geschichten, über die höchstens ihre Eltern noch sprechen. Es kommt aber gelegentlich vor, dass Studierende oder Gastwissenschaftler mich nach Büchern über die Zeit fragen. Und die sind dann auch sehr dankbar, dass ich sie aufbewahrt habe.
Die Kommunistische Partei Chinas (KPC) scheut bis heute eine Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der chinesischen Geschichte. Warum?
Eine Debatte – oder auch nur die Anerkennung – der Ereignisse von 1989 würde die Legitimität der Kommunistischen Partei ins Wanken bringen. Sie würde offenbaren, dass damals nicht nur eine Handvoll Konter-Revolutionäre auf die Straße gegangen sind, sondern die Bürger Pekings und zahlreicher anderer Städte an den Protesten gegen die Exzesse der KPC-Herrschaft beteiligt waren und eine gerechte Regierung forderten. Die Diskussion würde zudem aufdecken, dass die Partei das Militär gegen die Menschen eingesetzt hat, in deren Namen sie eigentlich die Macht ausübte. Würde die heutige chinesische Führung sich für die Taten von damals entschuldigen, wäre das gleichbedeutend mit einem Geständnis, dass ihre Legitimation auf dem Einsatz von Gewalt durch ihre Vorgänger von vor 30 Jahren beruht.
Vor 30 Jahren hat die Regierung der Bevölkerung eine Art Tausch angeboten: wirtschaftlicher Wohlstand gegen innenpolitische Ruhe. Wie ist ihre Einschätzung 2019: War die Kommunistische Partei damit erfolgreich?
Ob es einem gefällt oder nicht: Aus Sicht der chinesischen Regierung ist der Umgang mit dem Erbe von 1989 ein Erfolg und ein Beispiel dafür, wie sich politische Probleme auflösen, wenn man die Auseinandersetzung mit ihnen unterdrückt. Lange waren die Ereignisse von 1989 in einer Art Schwebezustand: sie waren weder anerkannter Teil der chinesischen Geschichte noch Teil einer streitbaren politischen Gegenwart. Allerdings hat die chinesische Gesellschaft sich verändert – und mit ihr die Kommunistische Partei. Eine Bewegung nach dem Vorbild der Tiananmen-Proteste könnte es heute nicht mehr geben, weil viel mehr Menschen vom Wohlstand und der Stabilität profitieren, die die KPC in den letzten 30 Jahren geschaffen hat. Die Probleme, mit denen sich viele Chinesen heute konfrontiert sehen, sind andere als damals. Sie sind heterogener und individueller geworden und werden normalerweise nicht mit einer moralisch-bankrotten Regierung in Verbindung gebracht. Hinzu kommt, dass die chinesische Führung in den letzten Jahren viele Erfolge verzeichnen konnte. Sowohl innenpolitisch als auch international. Das Argument, sie sei nicht fähig ein Land zu regieren, zieht daher nicht.
In den vergangenen Jahren hat die chinesische Führung die Kontrolle über die Gesellschaft verschärft. Wie viel Freiheit hat die Zivilgesellschaft in China heute?
Schon bevor Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping 2012 an die Macht kam, schränkte die chinesische Führung den Raum für zivilgesellschaftliche Akteure, darunter auch Rechtsanwälte, schrittweise ein. In den letzten Jahren ergriff die Regierung dann systematisch repressive Maßnahmen, die es quasi unmöglich machen, eine NGO zu führen oder Veranstaltungen zu organisieren, auf denen Kritik an der politischen Führung geäußert wird. So hat die Regierung auch den Einsatz für die eigenen Rechte und Interessen delegitimiert. Immer mehr öffentliche Bereiche werden als politisch oder subversiv eingestuft. Dadurch bekommt die KPC kaum notwendiges Feedback zu ihrer Arbeit, und der Gesellschaft fehlen die nötigen Kanäle, um auf Missstände hinzuweisen. Das gleiche gilt im Übrigen für Medien, Universitäten und Intellektuelle. Die Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Diskussionen können, wenn überhaupt, nur noch indirekt oder im Geheimen geführt werden.
Angesichts der aktuellen Situation in der Volksrepublik: Glauben Sie, dass es in den nächsten Jahren zu landesweiten Protesten kommen könnte? Und wenn ja, welche Reaktion erwarten Sie von der aktuellen chinesischen Regierung?
Das ist sehr unwahrscheinlich. Auch ohne das noch im Aufbau begriffene Gesellschaftliche Bonitätssystem ist die Regierung ungleich klüger und besser gerüstet, um mit allen möglichen Formen des Protests umzugehen. Peking hat zudem massiv investiert: in die Polizei, in die soziale Sicherung und auch in das Notfall- und Katastrophenmanagement. Das heißt zwar nicht, dass die Regierung den Ausbruch von Protesten verhindern kann, wohl aber, dass Unruhen schneller eingedämmt werden und ihre Ausbreitung gestoppt werden kann.
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